Das Lied der Steine
Der Herr der Inseln
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Behutsam nahm Madragena Errill die Hochzeitsschale ab, die er achtlos noch immer festhielt. Wie in Trance ließ er sie los und legte die Hand auf die Bronzeaxt an seinem Gürtel. Sein Arm um meine Schulter war so hart wie Stein. "Errill!" sagte ich tonlos und schmiegte mich an ihn.

"Ein Glück, daß die Hochzeitsschale noch nicht zerbrochen ist!" Lin weinte und lachte zugleich. "Lasra, dein Mann ist wieder da! Mein Nomak!"

Der Augenblick würde nie zu Ende gehen. Ich starrte Nomak an. Seine Stirn war ein wenig höher geworden, das Haar lichter. Seine Lederhose glänzte speckig. Ich starrte und starrte. Freude sah anders aus, das mußte selbst Lin allmählich klar werden.

Dann stürzten die Silbermöwenleute, unter denen sich auch einige seiner Verwandten befanden, und einige Adlerleute auf ihn zu, klopften ihm auf die Schulter und begrüßten ihn. Nomak war beliebt gewesen. Nur die Kinder hatten ihn nicht gemocht, obwohl er viel mit ihnen gelacht hatte.

Mirko zupfte an meinem Kleid. "Wir müssen ihn zusammen begrüßen, Erdfrau-Schwester!" flüsterte er mir zu. Errills Arm wurde von Sandstein zu Granit. "Wir Drei müssen ihn begrüßen", sagte er.

Mirko und Errill nahmen mich in die Mitte. Meine Beine gingen mit ihnen mit, bis ich vor Lin und Nomak stand. Wo Lins verdorrter Körper nur das viele Wasser hernahm! Ich versuchte mich zu erinnern, aber mir wollte nicht einfallen, wann ich sie je hatte weinen sehen. Ich wußte, daß etwas von mir erwartet wurde, konnte mich aber nicht von meinen Gedanken losreißen. An jenem Abend, als wir hatten einsehen müssen, daß Nomak nicht von seinem Fischzug zurückkehren würde, hatte Lin nicht geweint. Später dann am Tag der Wiedergeburt, als der Seeadler, steif gefroren in den Winterstürmen, für Nomak ins Ahnenhaus gelegt wurde? Ihr Gesicht wollte nicht in meinen Gedanken erscheinen. Ich sah nur Schnee und Steine.

"Willkommen, Nomak. Sei willkommen bei den Adlerleuten. Es ist eine freudige Überraschung für uns, daß du lebst. Wo bist du die ganze Zeit gewesen?" War das wirklich mein kleiner Bruder, der diese wohlgesetzten Worte gefunden hatte und dem Totgeglaubten nun den Verwandtenkuß gab?

"Danke für dein Willkommen, Bruder meiner Frau. Verzeih, aber ich bin heute über die Förde gekommen, und meine Reise war anstrengend und gefahrvoll. Ich fühle mich noch zu schwach, um die lange Geschichte meiner Abwesenheit zu erzählen. Das Glück überwältigt mich." Es war Nomaks Stimme, diese weiche, klingende Stimme, die mich aus meiner Erstarrung riß.

Lin streichelte seinen Arm. "Wir haben später noch Zeit zum Erzählen, liebes Kind."

Ulera streifte sie mit einem Blick, der von Mißtrauen triefte.

"Auch ich grüße dich, Nomak. Ich bin Errill von den Hirschleuten, und Lasra und ich haben heute geheiratet. Sei unser Freund und grolle nicht, daß Lasra einen neuen Mann genommen hat. Du galtest für tot bei den Sippen der Inseln. Die Dinge haben sich verändert."

"O nein!" lächelte Lin. "Ihr seid nicht verheiratet. Die Hochzeitsschale wurde nicht zerbrochen. Komm, Lasra, reich deinem Mann die Hand." Sie griff nach meiner Hand und versuchte, sie in Nomaks zu legen. Ich zuckte zurück.

"Lasra, meine Frau, willst du mich nicht begrüßen?"

"Sei gegrüßt, Nomak", sagte ich mit heiserer Stimme. "Aber ich habe jetzt einen neuen Mann. Ich bin Errills Frau. Du warst tot ... ich meine, der Seeadler ... Ich bin nicht mehr deine Frau, du mußt ..."

Ja, was mußte er denn? Niemand schien so recht zu wissen, was nun zu geschehen hatte.

"Willst du mir nicht den Verwandtenkuß geben?" fragte Nomak mit brechender Stimme.

Errill ließ meine Hand los. Ich umfaßte Nomaks Schultern, um ihn so weit wie möglich von mir weg zu halten, und berührte seine stopplige Wange mit den Lippen. Er roch nicht nach Krankheit oder Schweiß, er roch überhaupt nicht.

"Laßt uns mit der Zeremonie fortfahren", sagte Madragena schließlich. "Nomak, sei unser Ehrengast. Mutter Erdes und Vater Himmels Segen liegen bereits in der Hochzeitsschale. Sie können nicht zurückgenommen werden."

Silbermöwensohn, der Schamane unserer nächsten Nachbarn und Vater von Gorgs junger Frau Osi, gestikulierte wild, und mehrere Sippenmitglieder schwangen sich zur Verteidigung von Nomaks Anspruch auf. Da hielten auch die Hirschleute nicht mehr an sich und unterstützten lauthals ihren Sippenbruder.

"Erst hat sie gar keinen, und jetzt einen Mann zuviel!" Leles Zwischenruf brachte ihr ein paar Lacher, wenn auch nicht mein Wohlwollen ein. Doch das hatte sie noch nie besessen. Mit unbewegtem Gesicht sah ich zu Wibos Frau, Sihrus´ und Gorgs und wer weiß wessen Geliebte noch hinüber. Wie üblich hatte sie ihren üppigen Körper in ein viel zu enges Kleid gezwängt.

"Aber Lasra hat sich doch entschieden!" rief Ela. "Sie will Errill!" Niemand hörte ihr zu. Dann nahm Yarbro sie und den Kleinen in die Arme, und sie war verloren für die übrige Welt.

Hirschtochter, die zwar ihren Schamanenumhang, nicht jedoch die ausladende Hirschmaske trug, hob die Hand. "Ich sehe erregte Gesichter, ich höre wütende Stimmen. Haben wir an Naps Tag nicht den furchtbaren Beweis erleben müssen, wohin das führen kann? Beruhigt euch, setzt euch, mäßigt euren Zorn."

"Ja, setzt euch, verehrte Gäste!" sprang Adlersohn ihr bei und holte Hirschtochter und Silbermöwensohn an seine Seite. Lin und Nomak ließen sich zu ihrer Rechten, Errill, Mirko und ich zu ihrer Linken nieder.

"Wollt ihr das Festmahl für euch behalten, Adlerleute?" rief ein junger Mann.

"Richtig, was geschieht mit all den Köstlichkeiten?" wollte ein anderer wissen.

Adlersohn gab ein Zeichen, und die älteren Kinder unserer Sippe boten den Gästen reihum von Beeren und Fleisch, Fisch und Brei an. Selbst die Stierleute hatten die Umhänge abgelegt, um es sich schmecken zu lassen. Ich bekam keinen Bissen hinunter, doch Errill und Nomak langten kräftig zu, als äßen sie um die Wette.

"Was für ein Hochzeitsschmaus!" sagte mein zweiter Mann mit diesem Zucken um den Mundwinkel, das so charakteristisch für ihn war.

"Ein Schmaus für Augen und Zunge, fürwahr", entgegnete mein erster Mann, "doch eine Hochzeit kann ich nicht entdecken."

"Die lange Reise muß dich und dein Augenlicht geschwächt haben, doch es wird gewiß zurückkommen", sagte Errill mit einem sparsamen Lächeln.

"Du bist sehr freundlich in deiner Sorge um mich. Aber glaube mir, ich sehe, was ich vor mir habe. Zum Beispiel diese Bronzeaxt. Ein prächtiges Stück. Seit wann trägt man Waffen auf den Inseln?"

Errill blickte nicht auf, aber ich sah, wie seine Schultern sich anspannten. "Diese Axt gehört meinem Freund Sihrus, der ermordet wurde."

"Ermordet? Sihrus? Bei Mutter Erde!" Nomak schüttelte ungläubig den Kopf.

"Wenn er am Tag der Wiedergeburt ins Ahnenhaus geht, wird sie ihn begleiten. Ich bewahre sie nur für ihn auf."

"Und ich dachte schon, du wärst ein Meister der Metalle, ein mächtiger Mann!" Nomaks Stimme klang weich wie Lammwolle.

"Ich bin nur der Kerragmeister der Hirschleute", entgegnete Errill. Lächelnd strich er sich eine schwarze Strähne aus der Stirn. "Von Metall weiß ich nichts, nach Macht strebe ich nicht."

"Errill ist mit Sihrus bis zu einer großen Insel im Südmeer gefahren!" mischte Mirko sich in den Wortwechsel der beiden Männer ein. "Er muß dir einmal erzählen, was für Wunder er kennengelernt hat. Es ist unvorstellbar!"

"Ah", nickte Nomak, ohne den Blick von Errill zu nehmen, "und du bewunderst ihn." Sein Oberkörper war so schlaff wie Errills straff, seine Augen aber blickten hellwach.

Beiläufig plätscherten die Worte dahin, doch die Münder der beiden Männer waren hart, als spuckten sie kleine Steine. Kein Wunder, sagte ich mir und fühlte mich geschmeichelt.