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Für einen historischen Kriminalroman ist letztendlich auch die Frage entscheidend, wie Kriminalistik und Forensik in einer Zeit funktionieren, die lange vor der Erfindung dieser Begriffe liegt. Ist die ›Detektivin‹ Lasra ausschließlich auf ihren gesunden Menschenverstand und psychologisches Kalkül angewiesen? Zwar steht ihr nicht das moderne Technikarsenal der »Medical Detectives« zur Verfügung, dafür jedoch ein tiefes Wissen um Pflanzen und ihre Heilkraft, um die Gebrechen des menschlichen Körpers und die Geschöpfe von Mutter Erde, der Großen Göttin. Sie versteht es, den unwilligen Schamanen Adlersohn zur Preisgabe seines Wissens zu bewegen und so den Todeszeitpunkt zu bestimmen.

In a time before CSI

For a historical thriller the question of how criminal and forensic science would have worked in a time long before the development of these ideas is crucial. Is the ›detective‹ Lasra reduced to common sense and psychological calculation? Admittedly she has nothing as the technical arsenal of ›Medical Detectives‹ , on the other hand she possesses a deep knowledge of plants and their healing power, of the ailments of the human body and the creatures of Mother Earth, the Great Goddess. And she knows how to persuade the reluctant shaman Son-of-Eagle to add his knowledge to hers and to so determine the exact time of death.

Textauszug:

Adlersohn seufzte und schlug einen Tonfall an, mit dem sich Erwachsene gegen den unersättlichen Fragedrang eines Dreijährigen wappnen. "Unser geschätzter Sippenbruder", begann er, indem er auf die Lederhülle auf dem Totengerüst zeigte, "hat sich eine ungünstige Jahreszeit ausgesucht, um zu sterben. Wäre es Sommer, ja würde uns Ahntochter Sonne nur ein klein wenig mehr von ihrer Glut gönnen, so hätte ich dir anhand der Maden, die in seinem Fleisch herumwimmeln, fast auf den Tag genau bestimmen können, wann er" - auch er legte eine kleine Pause ein - "umgekommen ist. Die Weibchen der Schmeißfliege - du kennst das lästige Insekt zur Genüge - legen nämlich, besonders gern bei schwülwarmem Wetter, ihre Eier in die Weichteile der Leichen ab. Zwar möchte ich dein zartes Gemüt nicht zu sehr aufwühlen, doch damit du recht verstehst, in welchen Dingen du mit deinen Fragen herumstocherst" - ich war mir nahezu sicher, daß er unter seiner Maske grinste - "darf ich dich nicht schonen und werde dir eine kurze Einführung in jene Vorgänge der Zersetzung geben, denen alle Geschöpfe von Mutter Erde und Vater Himmel nach ihrem Ableben unterliegen.

  Die Rede, junge Lasra, ist also davon, daß die besagten Schmeißfliegenweibchen, angelockt vom Geruch der Verwesung, den sie bereits über unvorstellbare Entfernungen hinweg zu wittern vermögen, wenn die menschlichen Riechorgane jenen süßlichen Duft noch nicht einmal ahnen, daß jene Schmeißfliegenweibchen also ihre kleinen, glitschig-weißen Eipäckchen mit Vorliebe in die Augen - oder, falls diese geschlossen sind, in den Spalt zwischen Lid und Augeninnenwinkel -, in offene Wunden, in Ohren, Nase und Mund, will sagen: in sämtliche Körperöffnungen der Leiche ablegen, damit ihre zahllosen Nachkommen, während sie vom Ei zur saftigen Made heranwachsen, sich zu einer bräunlichen Puppe umbilden - welche sich übrigens besonders gern in den Haaren der Toten vor ihren Feinden versteckt halten, die wiederum sie fressen wollen - und zu guter Letzt schlüpfen, damit diese Nachkommen also ohne große Anstrengungen das weiche Leichengewebe in mundgerechten, leicht verdaulichen Häppchen aus dem Toten reißen können." Seine gelben Augen beobachteten mich lauernd aus den Schlitzen unter dem Seeadlerschnabel.

  Ich würde ihm nicht den Gefallen tun, grün zu werden. Was er da in liebevollen Einzelheiten schilderte, sagte ich mir, war ein ganz natürlicher Vorgang, das ewige Werden und Vergehen, das im Schoße von Mutter Erde stattfand, unerbittlich, möglicherweise unappetitlich, aber unabdingbar. Ich als künftige Erdfrau, sagte ich mir, betrachtete diese Dinge mit nüchternem, wenn auch nicht begeistertem Blick. Adlersohn dagegen schien sich an seinen eigenen Schilderungen zu ergötzen. Wie er die Wörter im Mund herumrollte, als wären es besonders saftige Leckerbissen, wie er sie mit seiner feuchten Aussprache hervorschmatzte - schlüppp-fffen, hatte er gesagt!
  "Die Larven fressen sich dick und dicker", erzählte er gerade, "und müssen sich zweimal häuten, sonst würden sie platzen - wenn du einmal verfolgt hast, wie die Leichen auf dem Totengerüst im Hochsommer aufgehen und ihre zu eng gewordene Hülle zu sprengen drohen, dann hast du eine ungefähre Vorstellung davon. Aber wem erzähle ich das? Zurück zu den Larven! Sie können so fett werden, wie dein Daumennagel breit ist, woran du ermessen magst, wie viel von dem nahrhaften Brei sie sich einverleibt haben. Anhand der Größe und Gestalt dieser Schmeißfliegenbrut hätte ich dir ziemlich genau sagen können, wie lange unser geschätzter Sippenbruder Sihrus nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ja, wäre er vor längerer Zeit umgekommen," - diesmal war die Pause kaum mehr als ein kurzes Luftanhalten - "so vermöchte ich anhand der Häufigkeit und Größe der Käsefliegenlarven seinen Sterbetag ebenfalls annähernd genau zu bestimmen. Dafür aber müsste seine Leiche beziehungsweise deren weiche Teile bereits in jenen Zustand übergegangen sein, mit dessen genauer Beschreibung ich dich jetzt nicht belästigen möchte - unschön, so viel darf ich sagen, äußerst unschön. Sihrus´ Leichnam wird erst eine Weile nach dem Tag der ersten Sonne so weit sein. Ich erwähne das hier nur am Rande, falls es dich interessieren sollte."

  Er schüttelte mit gespielter Besorgnis den Kopf. "Doch was rede ich da, er war ja aufgrund des kühlen Wetters recht gut erhalten. Leider, könnte man versucht sein zu sagen. Tja, für dein Anliegen ist er fünf" - er wedelte mit der rechten Hand herum - "sechs Tage zu früh gestorben. Wenn Ahntochter Sonne uns weiterhin mit ihrem Antlitz beglückt, dürften bald die ersten Schmeißfliegen über die Inseln summen."

  In meinem Mund war ein saurer Geschmack. Ich empfand Zorn über die höhnische Art, mit der er über Sihrus sprach. Wieder sah ich den pummeligen braunhaarigen Jungen vor dem schlanken blonden stehen. Die Rollen von Sieger und Verlierer schienen klar verteilt gewesen zu sein, damals, als wir Kinder waren.

  "Es muß doch noch andere Merkmale geben, die dir Aufschluß darüber verschaffen, wie lange er schon tot war! Irgendetwas, woran du -"

  Er tat, als habe er meinen Einwurf nicht gehört. "Ach, übrigens, wenn du Wert darauf legst - möglicherweise nützt es dir später bei deiner Arbeit als Erdfrau - kannst du mir beim Öffnen der Totenhaut zusehen. Ich warte noch zwei, drei Sprechtage ab, bis die Sonne die Lederhülle und ihren Inhalt hinreichend erhitzt hat, aber wenn es so weit ist, rufe ich dich gerne. Dann kannst du die Maden bei ihrem nützlichen, aber zugegebenermaßen etwas gewöhnungsbedürftigen Werk beobachten. Ihre Mütter finden stets einen Weg hinein - erfinderische kleine Brut, die sie sind."

  Mein Magen flatterte. Ich richtete meinen Blick unverwandt auf den Seeadler auf seinem Kopf und versenkte mich in das lebhafte Muster seiner braungrauen Federn mit den weißlichen Schäften. Der Adler war unser Sippentier, nicht seins. Er würde mir Kraft verleihen. Dieser scharfe, kühn gebogene Schnabel. Gelb wie seine Augen, mit einer dunkleren, gräulichen Spitze. "Bei dieser Gelegenheit", fuhr Adlersohn fort und wedelte beschwichtigend mit der Hand, "werde ich auch sein Hemd und seine Hose aufschneiden, du würdest also einen ungehinderten Blick auf Mutter Erdes gefräßige kleine Geschöpfe werfen können. Ich habe es stets abgelehnt, die Kleidung schon bei der Heimholung zu öffnen. Sag selbst, wäre das nicht abscheulich? Aber manche Tiersöhne halten es tatsächlich so." Er schüttelte ungläubig den Kopf.

  Nie wieder würde ich etwas essen. "Andere Merkmale, Adlersohn", stieß ich gepreßt hervor. "Die Vögel."

  "Die Vögel, die Vögel", intonierte er. "Unser verehrtes Sippentier hat ihm die Ehre erwiesen, von seinem Fleisch zu fressen. Solange es noch halbwegs frisch war. Krähen sind da weniger wählerisch. Du weißt selbst, welche Vögel am häufigsten über den Totengerüsten der Inseln kreisen. Möwen. Erinnerst du dich an die große braune Raubmöwe, die auf seiner Leiche hockte, als wir gestern um das Wäldchen herumkamen? Ich meine mich erinnern zu können, dass sie an seinem Oberarm - aber ich will das jetzt nicht vertiefen. Raubmöwen werden übrigens von einer solchen Gier getrieben, daß es mich nicht wundern sollte, wenn sie sogar die Haarbüschel verschlingen. Auch Silbermöwen fressen gerne Aas. Silbermöwen fressen einfach alles."

  In meinem Kopf flatterten braune und weiße und schwarze Schwingen wild durcheinander, und inmitten all der Federn hackten Schnäbel auf formlose Klumpen ein, gekrümmte Adlerschnäbel, braune Raubwöwenschnäbel, gelbe Silbermöwenschnäbel. Silbermöwen waren die häufigsten Besucher an den Küsten der Inseln, und der Klippenabschnitt am Ahnenhaus machte da keine Ausnahme. Sie kreisten über mir, die gierigen, zänkischen Raben des Meers, das Sippentier unserer nächsten Nachbarn im Süden. Und dann hatte ich es. Schwindel und Übelkeit ließen nach.

  "Ehrwürdiger Adlersohn, ich danke dir für deine Hilfe", begann ich mit einem ergebenen Seufzer, um ihn in Sicherheit zu wiegen. "Nun, sagen wir, für deine ... Bemühungen. Glaube nicht, ich wüßte sie nicht zu schätzen. Aber jetzt möchte ich dich nicht länger von deiner Arbeit abhalten. Du wirst sicherlich darauf brennen, dich in deiner Lieblingsfertigkeit weiter zu vervollkommen."
  Er sah mich an, als würde ich bellen wie ein Hund. "Im Tanzen", strahlte ich ihn an. "Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich zum Beispiel liebe es, Kräuter und Wurzeln zu sammeln, aber mit dem Einrenken ausgekugelter Schultern habe ich meine Schwierigkeiten. Wir alle zeichnen uns doch in der einen Fertigkeit aus - und sind in einer anderen die reinsten Versager. Ich mache dir keinen Vorwurf, weil du den genauen Zeitpunkt von Sihrus´ Tod nicht bestimmen kannst." Ich vollführte eine großzügige Geste mit der rechten Hand.

  Ein wachsamer Ausdruck trat in seine Augen. "Was willst du damit andeuten?"
  Ich wandte mich zum Gehen. "Oh, ich will nichts andeuten. Ich denke, daß ich mich ausgesprochen klar ausgedrückt habe. Ich nehme es dir nicht übel, daß du meine Frage nicht beantwortet hast. Offensichtlich war es ja kein böser Wille, sondern übersteigt schlicht deine Möglichkeiten," sagte ich schulterzuckend. "Silbermöwensohn kann mir bestimmt weiterhelfen."

  "Warte!", sagte er schnell. "Du willst doch nicht etwa zu unseren Sippennachbarn gehen, um -"

  "Mach dir bitte keine Sorgen!", beruhigte ich ihn. "Falls Silbermöwensohn mit den Toten auch nicht so vertraut ist - ich meine einmal gehört zu haben, er kenne jeden Pilz der Inseln - , dann wird er mich gewiss zu einem anderen Tiersohn schicken. Ich bin gut zu Fuß. In wenigen Tagen habe ich mich bei den Tiersöhnen durchgefragt und einen ge-"

  "Das wirst du nicht tun!", schrie er mich an. Ich hatte ihn noch nicht oft schreien hören. "Lasra!" Seine Stimme klang jetzt begütigend, beinah verschwörerisch. "Nach Madragenas Tod wirst du die Erdfrau der Adlerleute sein. Wir werden miteinander auskommen müssen. Es geht nicht an, daß Erdfrau und Tiersohn einer Sippe gegeneinander arbeiten - zum Wohle der Adlerleute müssen wir uns vertragen. Persönliche Dinge müssen zurücktreten, wenn es um unsere Sippenbrüder und -schwestern geht. Lasra!"
  Ich lächelte ihn freundlich an. "Zum Wohle der Adlerleute - du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Nichts lieber als das." Er hatte mir seine rechte Hand in einer versöhnlichen Geste entgegengestreckt. Beim Anblick der widernatürlich langen Fingernägel wurde es mir wieder leicht übel. Die dreifache Knochenkette um sein Handgelenk klimperte leise.

  "Jetzt will ich mich lieber auf den Weg machen, damit ich noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück bin", sagte ich und wandte mich zum Gehen. "Zu den Silbermöwenleuten ist es ja glücklicherweise nicht weit."

  "Vielleicht kann ich dir die Mühe ersparen", sagte er ahnungsvoll. Er klang, als sei es sein vornehmstes Anliegen, meine Füße zu schonen. Ich blieb stehen. "Es gibt noch eine Möglichkeit, die ich bis jetzt nicht in Betracht gezogen habe, da - da ich erst die Stimme der Götter abwarten wollte."  "Und jetzt hast du sie vernommen, die Stimme der Götter?" Die Götter pflegten sich stets im richtigen Augenblick bei ihm zu melden.
Er ließ sich viel Zeit beim Nicken. Der Adlerkopf nickte mit. "Wenn Ahntochter Sonne uns für den heutigen Tag die Gnade ihres Anblicks entzogen hat, werde ich mich auf die Suche begeben." Wollte er erneut zu einem Geisterflug aufbrechen? Oder kannte er andere Mittel und Wege, um den Rat der Götter einzuholen oder den Willen der Ahngeister zu erfragen? Am Tag des Überflusses pflegte er die Eingeweide der geschlachteten Tiere zu deuten, und die Adlerkrallen, die er stets in einem Lederbeutel um den Hals trug, halfen ihm, in Verbindung mit den Tiergeistern zu treten.